Viele Zehner Antworten von verschiedenen Kliniken: „Alles sehr schlecht, wir können nicht helfen"… Nur eine Antwort aus der Stadt Halle: „Alles sehr schlecht, aber… Es lohnt sich, zu versuchen"… Ein Monat des intensiven Schriftwechsels, lange ausführliche Antworten auf jede Frage von mir. Mehrere Konsilien. Manchmal sieht es so aus, dass ich alle Radiologen aus fernem Halle persönlich kenne. Leute, die mir eine Chance geben… Leute, die geschrieben haben: „Sogar wenn Chancen sehr klein sind, muss man sie nutzen. Man darf es nicht so lassen, wie es ist!"
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Nicht die erste schlaflose Nacht, unerträgliche Schmerzen, Fieber über 38… In solchem Zustand erschien ich in der Abteilung für Nuklear-Medizin. „Ich komme das Todesurteil zu hören", – dieser Gedanke kreiste in meinem Kopf. Das ungerechte Todesurteil…
Doktor Bergter… Ich erinnere mich an seinen Namen im Schriftwechsel. Wie gewöhnt, ziehe ich eine positive Maske an… Egal, dass alles in mir in diese Sekunde schüttelt, entweder wegen Fieber oder aus Angst… Das muss er nicht wissen! So ist mein ganzes Leben: wie auch immer schlecht es mir sein mag, muss das niemand wissen. Für Menschen außer meinem engen Kreis bin ich immer positive und optimistische Gavrysheva. Deshalb halte ich ein Lächeln und versuche, mit meinem wegen Fieber kochenden Gehirn zu bewegen, um auf Englisch zu verstehen und zu sprechen.
Die Untersuchung ist fast zu Ende… Ich gucke durch das Glas ins Zimmer und versuche, nach dem Gesicht vom Doktor zu erraten, was die PET zeigte. Er lächelt mir ermutigend und winkt. Aber… aber etwas gefällt mir nicht… Er guckt auf den Display und ich starre spanend in sein Gesicht und wiederhole, wie einen Zauberspruch: „Alles gut, alles gut, nichts Furchtbares dort!" Lippen wegen Schmerzen beißend, versuche ich trotz Fieber nicht zu zittern und hoffe immer noch, dass die PET die schlimmsten Annahmen nicht bestätigt. Dieser Mensch hinter dem Glas… Die ganze Welt ist jetzt so groß geworden wie sein Gesicht und sein Blick. Er ist jetzt der Einzige, wer das Todesurteil abschaffen kann… genauer gesagt – nicht ankündigen…
„Komm, ich zeige dir das Ergebnis", – lächelt er mir im Flur. In mir drin war alles gebrochen… „Aufstehen, Gericht kommt!" Das Urteil wurde angekündigt, ist nicht abzuschaffen und nicht zu beklagen. Nur hören und akzeptieren… sich abfinden… Auf dem großen Display ist ein Bild gestockt: mein Körper und eine schwarze Flecke um das Herz. Es ist nicht nötig, etwas zu sagen… Ich weiß, was das bedeutet… „Leider ist die Infektion um das Herz, sie wiederholt den Umriss der Elektrode und der Leitung. Es gibt noch einige verdächtige Läsionen…" Seine Stimme klingt irgendwo fern und nicht über mich. In diesem Moment verstand ich, was ein zu Unrecht zum Tode verurteilter Mensch fühlt…
Doktor zeigt Bilder, kommentiert, fragt über mich, über meine Arbeit… Ich nicke, lächele, erzähle… Ob als es nichts Schlimmes passiert wäre, ob als dieser Mensch mir gerade kein furchtbares Urteil angekündigt hätte… „Komm morgen. Wir besprechen noch das Ergebnis mit Herrn Professor Bähre und denken darüber nach, was zu tun wäre", – ich nicke und lächele weiter. Obwohl ich gleichzeitig einen einzigen Wunsch habe: in den Zug Berlin-Kiew einzusteigen und nach Hause abzufahren. Zum Sterben… Aber am liebsten würde ich gleich jetzt sterben, um keine Entscheidung zu treffen, um diese unerträglichen Schmerzen loszuwerden…
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Am nächsten Tag sitze ich wieder im Zimmer von Dr. Bergter. Das Urteil vollkommen verstehen und akzeptieren kann ich immer noch nicht. Ich kann immer noch nicht glauben, dass das alles wirklich geschieht. Doktor Bergter telefoniert immer wieder mit neuen Leuten, erzähl immer wieder meine Geschichte. Wobei er nicht mit meiner Diagnosen-Liste anfängt, sondern damit, dass ich „Journalistin, Präsidentin der Assoziation der Myastheniker, 1984 geboren usw." bin. Mein Geburtstagsjahr wiederholt er in jedem Gespräch mehrmals, auch dass ich ein sehr positiver Mensch sei. Lustig… Er könnte noch dem Tod selbst erzählen, dass er mich nicht nehmen darf, weil ich… und weiter nach dem bekannten Text.
Direktor der Klinik für Nuklearmedizin Professor Bähre kam mich kennen zu lernen und seine eigene Meinung zu bekommen. Er steht am Fenster und lernt mich aufmerksam.
– Ich habe da, und hier, und dort angerufen, ich habe diese und jene Firma gefragt, ob sie eine Elektrode kostenlos angeben könnten, ich habe da und hier um Hilfe gebeten, – erzählt Doktor Bergter schwungvoll. Ich lächele, nicke und gucke durch ihn in die Leere… – Doktor Bergter, haben Sie die Patientin gefragt, was sie plant? Ob sie etwas unternehmen will? – fragt der Professor. Ich überführe denselben nichts sehenden Blick auf den Mensch, der gerade meine Gedanken äußerte. – Ob sie will? – verwirrt wendet sich Doktor Bergter an mich, – Aber wie sonst? Wir lassen doch operieren, die Elektrode entfernen?! Das ist ja die einzige Chance! – es sieht so aus, dass ihm keine andere Lösung auffiel. – Uhu, – nicke ich ohne besonderen Enthusiasmus. – Na ja, es gibt noch ein Problem mit dem Herzchirurg, ob er das übernimmt. Aber Frau Gavrysheva wird kämpfen! – das sagt er so überzeugt, dass ich unwissentlich lächele und denke: obwohl er mich für eine Optimistin und Kämpferin hält, übertrifft er mich jetzt sowohl im Optimismus als auch in Kämpfer-Eigenschaften.
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Eine unbekannte Telefonnummer auf dem Handy-Display… Eine bekannte Stimme im Telefon… „Wie geht’s dir? Gibt es Nachrichten? Was sagte der Herzchirurg?" Ich erzähle über Risiken, über Zweifel vom Chirurg, wieder über Risiken. „Sag mir Bescheid, okay? Oder lieber rufe ich dich an. Darf ich dich in ein paar Tagen anrufen?" Ich lache und sage „ja". Er ist so rührend! Obwohl ich ihm ganz fremd bin, ist so viel echte Pflege in seiner Stimme. Ob als ihm nicht egal wäre, was mit mir passiert, mit einer vieler Patienten. „Nicht „ob als", – korrigierte mich meine innere Stimme, – es ist ihm wirklich nicht egal!"
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Ich komme durch die bekannte Tür der Abteilung für Nuklearmedizin. Ich zucke da nicht mehr auf… Das Urteil nahm ich schon an… Im Flur trifft mich fröhlich ein unbekannter Arzt und teilt mit aktivem Gebärden mit: „Warte hier, Doktor Bergter kommt gleich, er hat eine schöne Nachricht für dich!" Und alle vorbei laufenden Ärzte klatschen mich auf die Schulter und sagen, dass alles super sei!
Er ist da. Er strahlt und hält in der Hand eine Zeitschrift.
– Lösung! Es gibt eine Lösung! Eine amerikanische Firma präsentierte vor einem Monat einen neuen Kardiowerter. Alle Elektroden – unter der Haut. Ihn kann man sogar dir einstellen – leicht und nicht traumatisch. Nimm eine Kopie des Artikels, zeig das dem Herzchirurg. Zeig ihm, dass es eine Lösung gibt!!! Und ich versuche, mit der Firma zu kontaktieren und zu erfahren, ob sie ein Gerät kostenlos angeben kann, – das Lächeln verlässt sein Gesicht nicht.
Gleichzeitig denke ich, dass ich noch bis zum neuen Kardiowerter leben muss, dass ich darauf zu wenig Chancen habe, und jeden Tag – immer weniger… Aber trotzdem wurde ganz tief in der Seele ein kleiner Funke der Hoffnung angezündet. Der ganz kleine Funke… Aber im Vergleich mit der undurchdringlichen Finsternis war das schon unglaublich viel!
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Die Operation muss sehr bald stattfinden, und zwar nächste Woche… Ich unterschrieb eine Grußkarte und kam , mich zu bedanken… mich zu verabschieden… für den Fall, wenn… Ich verstehe sehr gut, dass meine Chancen ganz klein sind. Aber ich bin Doktor Bergter und seinen Kollegen aufrichtig dankbar. Weil sie festgestellt haben, was mit mir los ist. Weil die Operation dank ihnen möglich ist. Zwar ohne besondere Hoffnung, aber trotzdem eine Chance. Die ganz winzige Chance. Aber ohne sie, ohne „Nuklearer" hätte ich gar keine…
– Ich möchte, dass Sie wissen, wie ich mich bei Ihnen bedanke, – es ist mir schwer zu atmen, weil die Lungen-Blutung jeden Tag steigt und im Brust alles gurgelt. – Sie haben mir eine Chance geschenkt! Wie auch immer die Operation enden mag, habe ich dank Ihnen wenigstens versucht…
Er unterbricht mich, schüttelt den Kopf („das will ich nicht hören!") und sagt: „Ich glaube daran, alles wird gut!" Das sagt er nicht als Pflicht-Phrase, er glaubt wirklich… Ich lächele nachsichtig und denke wieder, wie grenzenlos optimistisch er ist…
Ein Erinnerungs-Foto… für den Fall… alles an diesem Tag – für diesen schlimmen Fall. Ob er das versteht? Ob es nötig ist, dass er versteht? Wahrscheinlich nicht… Denn er wird bekümmert. Und ich wünschte mir sehr stark, in dieser Geschichte auszuleben. Mindestens dafür, dass Doktor Bergter nicht bekümmert wird. Nach sechs Tagen werde ich mit der Lungen-Blutung not aufgenommen, jetzt denke ich aber daran, dass dieser unglaubliche einzigartige Mensch betrübt wird, falls ich nicht auslebe.
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– Du, du, du… Du bist so… so… – er strahlt und kann keine Wörter finden. Es ist über einen Monat nach meiner Operation. Ich habe ausgelebt… alles gemacht, um ihn nicht zu grämen… – … lebendig, – mache ich seinen Satz fertig. – Nein! Doch, lebendig, aber nein! Ich meinte nicht das! Du… du siehst so aus!!! – er ist echt glücklich. – Ich freue mich sehr, dass alles gut endete! – sagt Doktor Bergter irgendwie… sehr besonders. So, ob als es ihm wirklich wichtig wäre! Und wieder korrigierte mich meine innere Stimme: „Nicht „ob als"!!! Es ist ihm wirklich wichtig!"
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– Wo bist du verschwunden, ich bin doch aufgeregt! – wurde von ihm bei einem zufälligen Treffen gesagt. So aufrichtig gesagt, dass ich mich sehr beschämt fühlte…
„Ich weiß schon, wo wir für ein Foto stehen! Hier, vor der Abteilung, das wäre sehr symbolisch!" – vor meiner Abfahrt machen wir ein neues Foto. Später sagt er über dieses neue Bild: „Da sieht Frau Gavrysheva nicht so müde aus, wie auf dem ersten Foto". Ja, Frau Gavrysheva aus dem ersten Foto stirb… sie kam, sich mit ihm zu verabschieden… Aber Gavrysheva aus dem neuen Foto hat vor, lang und glücklich zu leben! Dank ihm! Dank seinem unglaublichen Optimismus!
Zum Abschied schrieb er mir eine Grußkarte. Wenige Sätze. Es ist aber so warm in meiner Seele davon… Davon, dass es in dieser Welt solchen lächelnden und pathologisch optimistischen Doktor Bergter gibt und dass Gott mir ein Treffen mit ihm schenkte. Zum Schluss habe ich noch einen Schutzengel, der Bilder malt, nach der Arbeit in der Stadt mit Fotoapparat spazieren gehen mag und echt daran glaubt, dass „die richtige Heldin Frau Gavrysheva" sei.
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Mein „nuklearer" Bergter… Für mich ist er seit langem nicht mehr ein Mensch, der mir ein Todesurteil ankündigte. Für mich ist er ein Mensch, der eine Chance gab. Er hielt mein Herz nicht in Hand, wie Doktor Bushnaq, und sicherte nicht mein Leben während der Operation, wie Professor Bucher. Er war einfach nicht gleichgültig. Manchmal reicht es dafür, dass bei einem Mensch eine Chance erscheint. Denn ohne Doktor Bergter, ohne seinen starken Wunsch, mir zu helfen, wäre keine Diagnose gewesen, sowie keine Operation… Gar nichts wäre mehr gewesen… Ich danke ihm! Danke für jeden Tag, den ich lebe! Lebe dank seiner Ungleichgültigkeit!
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