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Die Seele los lassen…
An der Tür des Zimmers hängt ein weißes Betttuch. Es ist tiefe Nacht, dort brennt aber Licht. Durch das Betttuch ist eine Silhouette der Frau zu sehen, die neben einem Bett sitzt. Sie sitzt fast unbeweglich, nur ab und zu fällt ihr Kopf auf die Brust – sie schläft seit vielen Tagen nicht und manchmal überwindet sie Müdigkeit. Sie fällt in den Schlaf für wenige Sekunden durch, wacht aber sofort im Schreck auf. „Ich darf nicht schlafen, ich darf nicht! Ich muss aufpassen!" – das spricht sie immer wieder aus. Sie sitzt neben ihrer Tochter. Neben ihrer todkranken Tochter. Das Mädchen ist blass und ganz erschöpft. Seit zwei Wochen kann es nicht schlucken. Und jeden Tag steigt Atem-Insuffizienz. Das Kind stirbt qualvoll an Erstickung.
Und die Ärzte? Sie haben den Tumor inoperabel anerkannt. Alles, was sie vorschlagen konnten, war eine tödliche Schlafmittel-Dosis, „um die Seele schneller los zu lassen". Das nannte der Arzt „einfacherer Ausweg", damit sich weder Natalia noch ihre Tochter weiter quälen. Natalia hat darauf verzichtet. Sie glaubte immer noch daran, dass ein Wunder passiert und ihr Mädchen geht auf dem Weg der Besserung. Nur diese Glaube an ein Wunder gab ihr Kräfte, mehrere Tage neben dem Bett pausenlos zu sitzen.
Das Mädchen war im halb bewussten Zustand. Wegen ständiges Sauerstoff-Mangels war sein Bewusstsein verschwommen, mal fiel es in etwas wie Schlaf, mal stöhnte leise. Es sprach fast nicht, das forderte zu viel Energie, die es nicht hatte. Vor einer Woche wurden alle unterstützenden Tropfer abgebrochen. Ärzte fanden alle Maßnahmen für Lebens-Unterstützung des Mädchens überflüssig. Und jetzt quälte es sich nicht nur wegen Atemnot sondern auch wegen des schrecklichen Durstes. Manchmal flüsterte es durch Schlaf: „Wasser, Wasser"… Das Wasser schien ihm, es träumte nicht davon, auszuleben, sondern davon, den unerträglichen Durst zu beschwichtigen. Das konnte es aber nicht und weinte nur hilflos, als es das Wasser fließen hörte.
Diese Nacht war es dem Mädchen besonders schlecht. Es atmete schwer und hörte ab und zu mit Atmen für 10-15 Sekunden auf. Die Mutter guckte pausenlos auf den sich kaum bewegenden Brustkorb. Und plötzlich begann die echte Hölle: das Mädchen atmete schwer ein und fing an, langsam blau zu werden. Atmen hörte auf… Die Mutter guckte im Schreck auf das immer blauere Gesicht. Sie wusste, was zu tun ist: sie sprang vom Stuhl und fing die Beatmung „Mund zu Mund" an. Sie rief niemanden zur Hilfe, weil sie wusste: es ist zwecklos. Die Ober-Ärztin verbot alle aktiven Maßnahmen für Lebens-Unterstützung. In entwickelten Ländern heißt das „passive Euthanasie" und gilt als ungesetzlich. Bei uns heißt das sorgsam „die Seele los lassen". Natalia atmete die Luft immer wieder in die Lungen ihrer Tochter ein. Sogar jetzt glaubte sie, dass der Kampf sinnvoll ist. Nach zehn Minuten machte das Mädchen einige Atemzüge selbst. Aber nach einer halben Stunde wurde das Atmen wieder gestoppt. Und wieder – „Mund zu Mund", bis Schwindel, bis Dunkelheit in Augen… Und nur ein Gedanke: nicht fallen, Bewusstsein nicht verlieren, denn die Tochter braucht diese Luft, die sie selbst nicht einatmen kann. Der Kampf dauerte mehrere Stunden. Und als das Mädchen nach einem der Atemstillstände die Augen aufmachte, gab es so ein Schmerz in seinem Blick… „Mama, lass mich, mach das nicht mehr… Lass mich sterben… Ich kann nicht mehr" – Wörter des Mädchens waren kaum zu hören und seine Augen waren mit Tränen getrübt.
Die Mutter verbarg ihr Gesicht in den Händen und ging vom Bett weg. Sie hörte das Mädchen zum letzten Mal schwer einatmen und abklingen. Natalia schluchzte lautlos und biss sich die Lippen bis Blut, ohne Schmerzen zu fühlen. Sie saß ihr Gesicht in Händen versteckend wenige Minuten, plötzlich sprang sie vom Stuhl. Auf ihrem Gesicht war die Entschlossenheit… sie stürzte zu ihrer Tochter. Die Tochter war schon blau, es gab keinen Herzschlag. Das Herz blieb stehen. Das war das Ende. Aber die Mutter wusste, dass sie noch eine Möglichkeit hat, alles zu ändern. Und sie stürzte, ihre Tochter zu reanimieren. Ohne Emotionen, wie eine Maschine: fünfzehn Drücke auf den Brustkorb, zwei Einatmungen. Und so – ohne Ende. Sie beobachtete die Zeit nicht, dachte nicht darüber nach, wie beschädigt das Gehirn der Tochter nach so einem langen Herzstillstand wird. Sie wusste nur Eines: sie muss das Mädchen reanimieren. Und nachdem sie die nächste Einatmung gemacht hatte, legte sie ihre Hand auf den Hals des Mädchens und fühlte den Puls. Das Herz schlug wieder!!! Sie machte die Beatmung weiter mit so einem Enthusiasmus, ob als sie im Kampf gegen Krankheit gewonnen hätte. Ob als sie jetzt ihr Mädchen wieder zum Leben gebracht hätte. Die Krankheit ist weg, ihre Tochter wird wieder gesund!
Als das Mädchen wieder zu Bewusstsein kam, fühlte es im Mund das Blut-Geschmack. Damals wusste es nicht, dass es Blut seiner Mutter ist, nicht seines. Sein Mutter biss sich Lippen bis Blut, während sie das Sterben ihres Kindes sah. Das Mädchen wusste Eines: seine Mutter brachte es zurück. Wieder hierher, in diese Welt von endlosem Atemnot und Durst. Damals hat es seine Mutter dafür fast gehasst. An die Utopie seiner Mutter über ein langes und glückliches Leben glaubte es nicht. Es glaubte nicht, dass diese dem Tod abgewonnene Nacht eine Rolle spielt.
Aber die Mutter… Es sah so aus, ob als sie gewusst hätte, wegen welcher Zukunft sie gegen Tod kämpfte. Ob als sie gewusst hätte, dass ich ihr nach 7 Jahren dafür danke, dass sie damals meine Seele nicht losließ. Dafür, dass ich dank ihrer fanatischen Glaube eine Möglichkeit bekam, diese sieben Jahre trotz des Tumors zu leben. Sieben Jahre des schweren Kampfes gegen Krankheit, aber trotzdem sieben Jahre des Lebens. Jetzt sitzt Mama auch manchmal in der Nacht neben mir und beobachtet mein Atmen. Sie weiß, dass es noch viele Schlachten für mein Leben in Zukunft kommen. Aber sie weiß genau so deutlich, dass sie den Faden meines Lebens nie mehr loslässt. Sogar wenn die Situation hoffnungslos aussieht. Sogar wenn das Herz steht, lässt sie meine Seele nicht los…
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Kategorie: FLUCHT VOM TOD | Hinzugefügt von: Irinka (03.05.2011)
| Autor: Iryna Gavrysheva
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Aufrufe: 1575
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