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Hauptseite » Artikel » FLUCHT VOM TOD

Auf die Wand klettern

„Wieder, wirklich schon wieder!!!" – dieser Schrei von Tante Sweta klang im Flur. Mama brachte mich gerade mit einem Rollbett zum Fernseher, als wir diesen Schrei hörten. Ich sah Tante Sweta neben ihrem Zimmer stehen und versuchen, auf die Wand zu klettern… Sie kratzte sich Finger bis Blut, rote Streifen blieben auf der gestrichenen Wand… Und sie griff die glatte Wand mit Nägeln weiter und versuchte zu klettern. Wohin? Wozu? Das wusste ich nicht, wahrscheinlich wusste sie selbst auch nicht. Aus ihrem Zimmer klang Dima’s Schrei: „Mama, bitte nicht, Mama…" Sein Schrei wurde ab und zu mit Schluchzen unterbrochen. Und auch mit Husten. Meine Mama ließ mich im Rollbett im Flur und lief ins Zimmer zu Dima. Ich hörte sie ihn beruhigen, er schrie aber weiter: „Was ist mit Mama?" Noch einige Mütter aus der Abteilung liefen zu Tante Sweta und versuchten, sie von der Wand abzuziehen. Sie kämpfte aber und warf sich zurück. Immer wieder griff sie die Wand mit Nägeln und schrie: „Ich kann nicht, ich kann nicht mehr!!!" Ich hörte jemanden im Arztzimmer Intensivstation anrufen. Und Tante Sweta schrie und kletterte auf die Wand weiter. Von diesem Anblick wurde alles kalt in mir, ich wollte Augen schließen und das nicht mehr sehen; ich wollte Ohren zumachen, um ihren Schrei und Dima’s Weinen nicht zu hören. Ich wollte weg aus dieser Hölle! Aber ich musste darauf gucken, sowie noch einige Kinder… Wobei es so aussah, dass es kein medizinisches Personal in der Abteilung gibt… Eine Krankenschwester lief um Tante Sweta herum und versuchte, ihr ein Glas Beruhigungsmittel zu unterschieben.

Einige Mütter versuchten immer wieder, Tante Sweta von der Wand abzuziehen. Sie schluchzten auch… wegen eigener Machtlosigkeit, Beleidigung, Angst. Meine Mama lief aus dem Dima’s Zimmer aus… ihre Hände waren blutbefleckt. „Sweta, wo sind Medikamente?" – sie ziepte Tante Sweta mit einer Hoffnung, sie zu fragen, wo rettende Medikamente für Dima liegen. Das war aber in diesem Moment zwecklos. Tante Sweta zuckte in Hysterie, weil ihr Sohn wieder Nasenbluten hatte und es nur vier Thrombozyten gab. Das bedeutete, viele Tage lang lässt sich diese Blutung nicht stoppen. Das bedeutete, man muss wieder irgendwo Blutspender suchen. Und wo kann man sie finden, wenn eine Transfusion jede Woche in riesigen Mengen notwendig ist… Ein Nasenbluten – das bedeutet wieder eine Nasentamponade unter Allgemeinnarkose, nach der sich ihr Dima lang und schmerzhaft wieder findet. Und er hört wieder auf, zu atmen… Sie hat keine morale Kräfte mehr, das alles wieder zu überleben. Das war über ihre Kräfte!

Die Fahrstuhl-Tür klopfte und in die Abteilung liefen Ärzte aus Intensivmedizin ein. Die Oberärztin kam ihnen entgegen, flüsterte etwas ins Ohr und ging wieder ins Ärztezimmer. Unter meinem Blick senkte sie die Augen. Sie senkte einfach die Augen… es kam ihr kein Gedanke, mich so zu verschieben, dass ich diese schrecklichen Dinge nicht sehe. Und in dieser Situation durfte ich nicht jemanden anderen darum bitten.

Die Reanimatologen haben Tante Sweta trotz ihres Widerstands etwas gespritzt. Nach einer halben Stunde fing sie an, ruhig zu werden. Erst nach einer halben Stunde! Und diese endlosen dreißig Minuten schrie sie genau so weiter und kletterte auf die Wand. Wieder und wieder… und wir sahen und hörten das alles. Uns Kindern ist unglaublich furchtbar davon geworden, was unsere Krankheit mit unseren Müttern macht. Und uns war auch peinlich dafür, dass wir krank sind, dass wir unsere Lieben zu solchen Leiden verurteilten. „Wenn morgen meine Mutter genau so auf die Wand klettert, ist das nur meine Schuld!" – so dachte in diesem Moment jeder von uns…

Die einschlafende Tante Sweta brachte man in mein Zimmer und legte sie dort hin. Jemand von Müttern blieb dort, um auf sie aufzupassen, damit sie aufwachend kein Quatsch macht. Alle anderen eilten, Dima zu helfen. Meine Mama lief an mir vorbei ins Zimmer und kehrte mit ihrem Portmonee zurück. Dima brauchte Medikamente und niemand wusste, wo Tante Sweta ihr Portmonee legte. Mama brachte ihr Geld, ohne einen Augenblick zu denken. Ich sah noch jemanden ein Portmonee zu bringen. Eine der Mütter zog die erste erhältliche Jacke, griff das Geld und lief zur Apotheke. Meine Mama überredete Dima ruhig zu werden. In der Nacht saß sie mit ihm, als er nach der Narkose schwärmte. Der Tante Sweta wurde immer wieder ein Schlafmittel gespritzt, ohne sie aufwachen zu lassen. Tante Nadja saß mit ihr, ohne das Licht auszuschalten. Außerdem pflegte sie ihren eigenen kranken Sohn und mich. Sie drehte mich um, gab mir essen und trinken.

Tag und Nacht schliefen Tante Nadja und meine Mama nicht, danach fing eine andere Mutter an, Dima zu betreuen, Tante Sweta wurde auch von jemandem anderen weiter betreut. Noch drei Tage wurde es ihr verboten, sogar nah zu dem Zimmer zu kommen, wo ihr Sohn lag. Zur Toilette wurde sie begleitet und blieb keine Sekunde allein. Als sie einmal an der Wand vorbei ging, auf die sie versuchte zu klettern, warf sie einen Blick auf Kratzer der Farbe und ihre bis Blut zerbrochene Nägel und fragte zaghaft: „Habe ich das wirklich gemacht?.." Als es ihr endlich erlaubt wurde, ins Zimmer rein zu kommen, blickte Dima auf sie, sagte sehr ruhig: „ Wenn du noch mal so etwas machst, springe ich aus diesem Fenster" – und weinte. Tante Sweta weinte auch, aber ganz anders, leise und hilflos. Sie armte ihren Sohn um, drückte ihn an ihre Brust und fühlte eine brennende Scham dafür, dass sie ihr Kind in so einem schweren Moment ohne Hilfe ließ. Es wurde von anderen gerettet, von jenen, die nicht weniger eigene Probleme haben. An diesem Abend kam sie zu jeder Mutter, die ihr oder Dima half, nahm leise ihre Hände und drückte zu ihrem Herzen. In Weiterem hat sie niemand und nie mehr daran erinnert, wie sie versuchte, auf die Wand zu klettern, um ihre überlaufende Verzweiflung zu übertönen…

Kategorie: FLUCHT VOM TOD | Hinzugefügt von: Irinka (13.06.2011) | Autor: Iryna Gavrysheva
Aufrufe: 1626 | Rating: 5.0/1
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